Dirk Lange / 2008

„Columbus gib mir noch ne Chance!“

„Sommer 2008. Das ist jetzt, wo ich dies schreibe, zwölf Jahre her. Sogar meine steuerrelevanten Unterlagen aus dieser Zeit durfte ich inzwischen vernichten. Ab und an, vielleicht zweimal im Jahr, wache ich Nachts auf, gehe mit traumwandlerischer Zielstrebigkeit zum Fenster und schaue hinaus über den Atlantik. Auf dessen ferner Seite erahne ich den warmen Schein suburbaner Lichter. Tränen laufen mir über das gequält lächelnde Gesicht. Der Klang meiner Stimme, leise und fremd, lässt mich erschaudern: „Columbus… gib mir noch ne Chance… nur noch dieses eine mal… Come on!“ Das Geheimnis des Losers, so wurde mir schon früh im Leben klar, lautet: Für jede verpasste Chance gibt es stets eine Neue. Wer seine Optionen allzu entschlossen wahrnimmt, bleibt oft auf seinem Gewinn sitzen – Ende der Busstrecke. Seit meinem Aufenthalt in Columbus verfolgt mich das Rätsel dieser suburbanen Häuserreihen und hochauflösend gerenderten Vorgärten. Diesen Widerspruch an Authentizität und Virtualität als „meine persönliche Sphinx“ zu bezeichnen, schießt sicher über das Ziel hinaus. Stattdessen stelle ich mir etwas Nüchterneres vor, eine Art Aktenvermerk: „Columbus: Verfahren vorübergehend eingestellt“.

Aber auch das hält mich nicht davon ab, hin und wieder nachts aus dem Fenster zu schauen.

„Summer 2008, which is twelve years ago now that I am writing this. I was even allowed to destroy my tax-relevant documents from that time. Now and then, maybe twice a year, I wake up at night, walk to the window with somnambulistic determination and look out over the Atlantic. On the far side of the Atlantic, I sense the warm glow of suburban lights. Tears run down my tortured smiling face. The sound of my voice, soft and strange, makes me shudder: „Columbus… give me another chance… just this one time… Come on!“ The secret of the loser, I discovered early in life, is: For every missed chance there is always a new one. Those who take their options too decisively often end up sitting on their winnings – end of the bus route. Since my stay in Columbus, the mystery of these suburban rows of houses and high-resolution rendered front gardens has haunted me. To call this contradiction of authenticity and virtuality „my personal sphinx“ surely overshoots the mark. Instead, I imagine something more sober, a kind of file note: „Columbus proceedings temporarily suspended”

But even that does not stop me from looking out of the window every now and then at night.

Dirk Lange, Bilder: Saint Radio, Bleistift, Farbstift und Tusche auf Papier, 214 x 194 cm, 2010,
Wach auf Reporter!, Bleistift, Farbstift und Tusche auf Papier 186 x 136 cm, 2016

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Dirk Lange

1972 geboren in Erbach (Odenwald)

Studium der Malerei an der Akademie voor Beeldende Kunsten Maastricht (NL)

lebt und arbeitet seit 2002 in Dresden

Dirk Lange

Dirk Lange / 2008

„Columbus gib mir noch ne Chance!“

„Sommer 2008. Das ist jetzt, wo ich dies schreibe, zwölf Jahre her. Sogar meine steuerrelevanten Unterlagen aus dieser Zeit durfte ich inzwischen vernichten. Ab und an, vielleicht zweimal im Jahr, wache ich Nachts auf, gehe mit traumwandlerischer Zielstrebigkeit zum Fenster und schaue hinaus über den Atlantik. Auf dessen ferner Seite erahne ich den warmen Schein suburbaner Lichter. Tränen laufen mir über das gequält lächelnde Gesicht. Der Klang meiner Stimme, leise und fremd, lässt mich erschaudern: „Columbus… gib mir noch ne Chance… nur noch dieses eine mal… Come on!“ Das Geheimnis des Losers, so wurde mir schon früh im Leben klar, lautet: Für jede verpasste Chance gibt es stets eine Neue. Wer seine Optionen allzu entschlossen wahrnimmt, bleibt oft auf seinem Gewinn sitzen – Ende der Busstrecke. Seit meinem Aufenthalt in Columbus verfolgt mich das Rätsel dieser suburbanen Häuserreihen und hochauflösend gerenderten Vorgärten. Diesen Widerspruch an Authentizität und Virtualität als „meine persönliche Sphinx“ zu bezeichnen, schießt sicher über das Ziel hinaus. Stattdessen stelle ich mir etwas Nüchterneres vor, eine Art Aktenvermerk: „Columbus: Verfahren vorübergehend eingestellt“.

Aber auch das hält mich nicht davon ab, hin und wieder nachts aus dem Fenster zu schauen.

„Summer 2008, which is twelve years ago now that I am writing this. I was even allowed to destroy my tax-relevant documents from that time. Now and then, maybe twice a year, I wake up at night, walk to the window with somnambulistic determination and look out over the Atlantic. On the far side of the Atlantic, I sense the warm glow of suburban lights. Tears run down my tortured smiling face. The sound of my voice, soft and strange, makes me shudder: „Columbus… give me another chance… just this one time… Come on!“ The secret of the loser, I discovered early in life, is: For every missed chance there is always a new one. Those who take their options too decisively often end up sitting on their winnings – end of the bus route. Since my stay in Columbus, the mystery of these suburban rows of houses and high-resolution rendered front gardens has haunted me. To call this contradiction of authenticity and virtuality „my personal sphinx“ surely overshoots the mark. Instead, I imagine something more sober, a kind of file note: „Columbus proceedings temporarily suspended”

But even that does not stop me from looking out of the window every now and then at night.

Bilder: Saint Radio, Bleistift, Farbstift und Tusche auf Papier, 214 x 194 cm, 2010,
Wach auf Reporter!, Bleistift, Farbstift und Tusche auf Papier 186 x 136 cm, 2016